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… abseits dessen, was von zentraler Bedeutung scheint
So vieles verliert sich im Nichts. Gedanken bleiben ungesagt, Worte bleiben ungehört. Musik verklingt. Kulturen verschwinden. Werte, Bewertungen verändern sich. Manches kann verborgen bleiben, untergehen, noch bevor es wirksam wird. Ethik und Humanität, Terror und Gewalt – was bleibt? Was bleibt von einem Menschen, was von einer Gesellschaft? Was bleibt von Natur und Wissenschaft? Was entgleitet der Wahrnehmung, was fällt ins Vergessen? Wo bleiben die Nuancen, die Zwischentöne? Wer bemerkt ihre Existenz, macht sie sichtbar, hörbar, erlebbar?
Kunst hat ein unstillbares Verlangen, diese Ebenen aufzufinden, zu ergründen, darzustellen. Spurensuche, Spurensicherung betreiben die Künstler mit seismographischer Sensibilität. Das Dahinter, das Daneben, das Darüberhinaus ist ihnen wichtig, erreicht ihre Aufmerksamkeit.
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Das allerneueste und glanzvollste Produkt der Kommunikationstechnologie ist morgen schon ein veraltetes, bedauernswertes Geschöpf, ein schnöder Apparat von gestern. In kaum einer anderen Branche ist das Entwicklungspotential wohl so extrem, die Beschleunigung auch optisch so sehr sichtbar. Nun haben die Künstlerinnen Maria und Natalia Petschatnikov diese Computerrelikte samt Zubehör auch noch 1:1 nachgebaut, aus Pappe und Klebestreifen. Ist das jetzt Verschwendung von Ressourcen und Zeit? Wohl kaum! Machen die auf den ersten Blick echt wirkenden Kopien doch das ganze Ausmaß der Szenerie erst deutlich. Und da steckt dann auch das künstlerische Prinzip. Nichts ist wie es scheint – eine konzeptuelle Spurensuche.
Wahrnehmung und Wahrheit, Bewusstheit und Realität, Sichtweisen und Tatsachen sind nicht immer übereinstimmende Seiten. Verschiebungen, Verwerfungen sind an der Tagesordnung. Sie zeigen das Daneben. Maria und Natalia Petschatnikov greifen diese Muster des Scheinbaren auf. Ihre Mittel sind die Malerei und Objekte. Bilder und Skulpturen integrieren sie in Installationen und machen sie so zu „hybriden“ Projekten.
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In diesen Positionen steckt ein enormes Innovationspotenzial, das sich speist aus der Hinterfragung von Daseins- und Denkformen, abseits dessen, was von zentraler Bedeutung scheint. Tradition, Wissenschaft und Technologie werden auf ihre Zukunftstauglichkeit überprüft.
Geschichte, Erinnerung, Realität, Fiktion – was bleibt, was ist bedeutsam? Diesen Phänomenen gehen die Künstlerinnen mit Mice & More nach. Sie stellen sich dem Verlauf der Zeit in der Gegenwart. Sie richten den Blick auf Vergangenes, auf tradierte Wissenschaftsmuster und veraltete Technologieformen und können in ihren Aussagen kaum präsenter, ja zukunftsorientierter sein.
Ulla Lohmann, Hamburg 2013