Das Undenkbare denken, Prof. Heinz Lohmann

Einführende Gedanken zur Ausstellung „Gruppendynamik“ in der STERNWYWIOL GALERIE in Hamburg (Deutsch)

Kürzlich habe ich „Dr. Watson“ kennengelernt. Patienten können ihm ihre Symptome schildern und er teilt ihnen daraufhin die Diagnose mit. Er sagt sogar, zu wie viel Prozent er sich bei seiner Beurteilung sicher ist – nehmen wir mal an zu 78 Prozent. Dann benennt er weitere Untersuchungen und Analysen, die noch notwendig sind, um die Diagnose endgültig zu präzisieren - eventuell noch eine Röntgenaufnahme machen und ein oder zwei Laborwerte ermitteln. „Dr. Watson“ ist eine intelligente Software. Er kann etwa 12.000 Fachpublikationen am Tag verarbeiten. Er liest, wertet aus, gleicht die Ergebnisse mit anderen Informationen ab und wendet schließlich sein Wissen auch noch an. „Dr. Watson“ kann millionenfach Therapieabläufe analysieren und daraus eine individualisierte und optimierte Therapie vorschlagen und durchführen. Er kann digitale Workflows unterstützen und so Ärzten und Pflegekräften die Arbeit erleichtern. Darüber hinaus kann er natürlich auch mit Robotern wie „Pepper“ und „Nao“ kommunizieren und sie in ihrem Einsatz steuern.

Die Digitalisierung revolutioniert nicht nur die Medizin, sondern unser gesamtes Leben. Und da stehen wir erst ganz am Anfang. Insbesondere die Wirtschaft ist von den Veränderungen radikal betroffen. Unsere bisher so klaren Bilder von den Arbeitswelten beginnen zu verschwimmen. Wir geraten in unklare Verhältnisse. Und genau dort setzen die Künstlerinnen Maria und Natalia Petschatnikov mit der Ausstellung „Gruppendynamik“ an. In ihrer Installation verknüpfen sie die Kunstwelt der Galerie im Erdgeschoss des Geschäftshauses mit der Welt der Kontore in den Stockwerken darüber. Es gibt eine Fülle von Zeichnungen, Malerei und Objekten. Wir entdecken beispielsweise Geld, äußerst ästhetisch dargestellt, und Kassenbons oder Briefumschläge und Arbeitsmappen. Überall kleben die gelben post-its. Wir identifizieren auch die typischen Attribute des Business, die „Uniform“ der Manager etwa: fünf Hemden, fünf Paar Schuhe, für jeden Arbeitstag der Woche je ein Exemplar, akribisch genau gemalt. Für Maria und Natalia Petschatnikov ist das Wirtschaftsleben aber ein völlig fremdes Geschehen. Sie haben deshalb in ihre Arrangements kleine „Störungen“ eingebaut. In einer der Hemd - Schuh - Kombinationen taucht plötzlich ein Bild mit zwei Paar Schuhen auf. Das eigentlich hierher gehörende Gemälde mit einem Paar Schuhen findet sich an einer anderen Stelle der Galerie „versteckt“.

In diese formierte Geschäftswelt hinein platzieren Maria und Natalia Petschatnikov ihr Kunstpersonal. Der Raum ist bevölkert von Hunden und Vögeln. Die Hunde wurden auf Berliner Straßen fotografiert, anschließend gemalt und dann im Maßstab 1:1 zu Plastiken modelliert. Die lebensgroßen Vögel repräsentieren die drei in den Städten am häufigsten vorkommenden Exemplare, nämlich Krähen, Tauben und Spatzen. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen, den Künstlerinnen geht es hier nicht um Tierliebe oder ländliche Idyllen, sondern um die urbanen Kontexte ihrer Werke. Der unsichtbare Tierhalter am Ende der Leine ist dabei für das Verständnis der Arbeiten bedeutsam.

Die Welt der Künstlerinnen ist die städtische Umgebung; das spiegelt auch ihr Lebensweg wider. 1973 in Leningrad / St. Petersburg geboren, besuchten sie die Kindermalschule der Eremitage. Bereits mit 12 Jahren konnten sie spannende Arbeitsergebnisse erzielen. Eine klassische russische Realismusausbildung erhielten sie in ihrer Heimatstadt nicht. Vielmehr studierten sie Kunst am Hunter College in New York und an der École des Baux-Arts in Paris. Dort haben sie auch im Atelier der Meisterin der Assemblagen, Annette Messager, gearbeitet. Diese Station war, das zeigt ein Blick auf ihr bisheriges Werk, für die beiden Künstlerinnen prägend. Danach lebten sie einige Jahre in Hamburg und sind heute in Berlin zu Hause, wenn sie nicht gerade wieder einmal in der Welt unterwegs sind. Ihre Themen repräsentieren die Urbanität, den städtischen Raum mit seinen reichen Facetten von Klutur, Freizeit und Arbeit: U-Bahnen, Museen, Flohmärkte, Computer und heute hier eben die Kontore.

Die „Foto-Tapeten“ an den Wänden der Galerie geben Ansichten der Büroräume aus den Stockwerken darüber wieder. Maria und Natalia Petschatnikov haben die Aufnahmen nach Geschäftsschluss gemacht. Dann haben sie ihre „Exoten“, beispielsweise kleine Spielzeugfiguren, Rosenkohl und Tomaten oder ihre Vögel und Hunde in die Arbeitsräume und auf die Schreibtische einwandern lassen. Die hier entstandenen Bilder wurden im Computer weiter verallgemeinert und verfremdet. Die Künstlerinnen nehmen damit einen Rückgriff auf die Kunstgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts vor. Damals verkörperten exotische Früchte in Stillleben eine eigene, besondere Symbolik. Mit diesen Interventionen in den realen Raum stellen Maria und Natalia Petschatnikov heute zunächst unverbundene Wirklichkeiten schroff nebeneinander. Das irritiert die Betrachter. Aber genau das ist auch das Ziel. So ziehen uns die beiden Künstlerinnen in eine Auseinandersetzung mit ihren Themen. Das geschieht sehr häufig in ihrem Werk. Sie begeben sich in einen Dialog mit dem Betrachter. Der muss ihre Kunst erst in seinem Kopf vollenden. In unserer Sammlung befindet sich beispielsweise ein unscharfes Foto, das als Familienbild wahrgenommen wird. In Wirklichkeit handelt es sich aber um undeutlich fotografierte Leinensäckchen verschiedener Größe und Farbe, die an dünnen Fäden von einer Stange herabhängend aufgenommen wurden. Wir alle kennen die verwackelten und vergilbten analogen Fotografien in den alten Familienalben mit den nur undeutlich wahrnehmbaren Freunden und Verwandten. Diese Bilder sind in unserem Gedächtnis gespeichert und deshalb greifen wir bei der Wahrnehmung solcher Motive auf alte Erfahrungen zurück. Dieses Prinzip trifft auch für die Darstellung der Tiere zu, denen häufig Augen, Nase oder Mund fehlen. Es geht den beiden Künstlerinnen nicht um das Abbild. Das gilt sogar auch für ihre realistischen Malereien. Die künstlerischen Objekte von Maria und Natalia Petschatnikov sind immer in das Umfeld eingebettet. Was sie machen ist Konzeptkunst, allerdings nicht in einer minimalistischen Form, sondern äußerst ausdrucksstark. Das Ergebnis ist häufig für den Betrachter verstörend. „Die Funktion von Kunst besteht darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen“ hat der Dramatiker Heiner Müller einmal so passend bemerkt.

Wir leben in einer Zeit disruptiver Entwicklungen. Wir müssen Abschied nehmen vom Vertrauten. Algorithmen übernehmen viele, bisher den Menschen vorbehaltene Aufgaben. „Dr. Watson“ weiß und kann in Zukunft fast alles besser als wir. Und was bleibt uns dann noch? Die Kunst von Maria und Natalia Petschatnikov zeigt es ganz deutlich. Es ist das wirklich Undenkbare zu denken. Es gibt zwar den ersten „digitalen Rembrandt“, ein tolles Bild, das eine Software aus der Analyse aller bekannten Rembrandt-Bilder im Computer „gemalt“ hat. Künstliche Intelligenz verarbeitet aber nur Erfahrenes. In der Wirtschaft geht es immer schon darum, sich von dem Überkommenen zu lösen, das zunächst verrückt Erscheinende zuzulassen, den Mut zu haben, Ungewohntes zu wagen. Die Kunst von Maria und Natalia Petschatnikov kann dazu ermutigen und damit eine Dynamik in Gang bringen, die mit ihrer Kreativität mitreißt. Deshalb passt die Ausstellung „Gruppendynamik“ so wunderbar in dieses Kontorhaus.